Boualem Sansal: KEIN Nachruf

Wie immer der  brutale Übergriff  des algerischen Geheimdienstes auf den Autor und Friedenspreisträger  Boualem Sansal  endet - er beweist auf makabre Weise die Wichtigkeit und  die Kraft der Literatur.  Augenscheinlich  produzieren totalitäre Systeme  „gute“ Leser — denn wenn sie nicht instinktiv   die machtsetzende sanfte Gewalt der Literatur spüren könnten, würden Sie sich diese Leute sicher  nicht die „Mühe“ machen, sie  und ihre Verfasser zu verfolgen oder ihre Werke zu verbrennen.

Und Boualem Sansal ruft  ganz offenbar derartige Obsessionen hervor. Und er weiss das: Denn der Schriftsteller, so Sansal, habe die Aufgabe, auf das Volk zuzugehen, mit dem Volk zu sprechen und sich in einen Zustand permanenten Handelns, andauernder Aktion zu begeben.

Vor diesem Hintergrund sind auch die öffentlichen Stellungnahmen Sansals und seiner Kollegen zu sehen, wie zum Beispiel der offene Brief Mohammed Kacimis an Bouteflika oder der offene Brief Sansals an seine Landsleute - ebenso wie der dystopische Roman 2084. In La fin du monde (von 2015) schließlich  entwirft  Boualem Sansal die Vision einer religiösen Diktatur, die vor einer Re-Islamisierung der Bevölkerung und einer Kontrolle von Sprache und Kultur durch ein totalitäres System warnt.

In manchen Fällen ergeben sich paradoxe Konstellationen: So erscheinen etwa die Bücher von Boualem Sansal gar nicht in Algerien, werden dort aber häufig und eingehend besprochen. Auch lebt Sansal weiter in Algerien. Neuerdings durchbrach er diese unfreiwillige Isolation und pendelte zwischen Algier und Paris (Vielleicht machte ihn genau diese Beweglichkeit in den Augen der Machhaber verdächtig). Überdies befindet er sich, wie alle auf Französisch schreibenden Autoren, in einer ambivalenten Beziehung zu Algerien selbst: „je suis un champion de la francophonie dans un pays qui refuse la francophonie.“

Boualem Sansal verfasste eine „Weltgeschichte des Maghreb“, in der er den Maghreb als kulturelle Kontakt- und Mischzone charakterisiert.  Bücher wie diese können als Dokumente des Verlangens nach einer nationalen und internationalen Geschichte eingeordnet werden, die weit über die Identifizierungsangebote des politischen Systems hinausgeht und die deshalb - fast folgerichtig - von seinen Vasallen verfolgt wurden. 

Noch einmal ist hier  an seinen Roman „2084“ zu erinnern. In einem  Land namens Abistan regiert ein derart  totalitäres und geschlossenes System, dass die Einwohner überhaupt nichts mehr von der Existenz anderer Länder wissen. Das System ist um einen Präsidenten aufgebaut, den noch nie ein Mensch gesehen hat. Gründungsmythos des Landes ist ein großer Krieg, die eigentliche Geschichte dieses Krieges ist längst in Vergessenheit geraten, aber nicht seine identitätsstiftende Funktion. Angesichts der polylinguistischen Situation im heutigen Algerien und den damit verbundenen Konflikten verdient es auch Beachtung, dass in Sansals Abistan nur noch eine einzige Sprache gesprochen wird, die – hier ist wiederum die dystopische Sprachphilosophie George Orwells besonders stark – das Denken der Menschen in höchst manipulativer Weise kontrolliert.

Das Aufdecken von Parallel-Realitäten und das Aufzeigen von gefährlichen innergesellschaftlichen Bruchlinien darf – so Sansal – sich nicht nur auf die Texte beschränken, sondern muss sich auch in politischen Aktionen ausdrücken. In diesem Sinn hätte Literatur sogar etwas von einem „Spionagewerkzeug“ – indem sie besser hinhört, mehr sieht und mehr speichert als andere Medien.

Deshalb hält er die  die Dystopie für die ideale Form, um die Beobachtung  zugleich zu verschlüsseln und darüber zu sprechen.

Denn: Literatur kann tatsächlich, auch wenn  das nicht immer von allen verstanden wird, größere Umbrüche, Veränderungen, die sich in einer Gesellschaft abspielen, aufzeigen, wenn nicht antizipieren. Als Beispiel verweist Boualem Sansal kollegial auch auf die „Unterwerfung“ von  Michel Houellebecq , in dessen Kontext  sogar vom „großen Austausch“ gesprochen wird. Er charakterisiert damit    eine  tiefgreifende  schleichende Veränderung der französischen Gesellschaft, in der sich  Werte und Argumente auf dramatische Weise verschieben. Schlußendlich wirkt man  sogar an der eigenen „Unterwerfung" , Abschaffung  auf fast kafkaeske Weise ( siehe Der Prozess) selbst mit. 

Vor einigen Jahren protegierte Sansal konsequenterweise sogar  ein Parlament der Schriftsteller? Durch die Pandemie  wurde diese Idee eines Forums unterbrochen. Es hätte vielleicht eine Möglichkeit eröffnet,  die Probleme an den  Wurzeln  zu packen  würde und die Zukunft seines  Landes, unserer Länder offen  zu diskutieren. Die Idee eines offenen Mittelmeerraums als einer Drehscheibe der Kulturen wäre  - auch mit Blick auf den Libanon und Gaza  - wichtiger denn je.  Damals, 2020, also noch vor den großen Kriegen,  schrieb er bereits hellsichtig:

"Wir wollen und wünschen ein allgemeines und massives Auftreten  der Schriftsteller und Intellektuellen des Mittelmeerraums, damit die Dramen, welche Tausenden von Frauen und Männern zum Verhängnis wurden und weiter werden, enden.  Als jahrtausendealte Wiege der Zivilisation ist unser Meer, ursprünglich Ort der großen Begegnung und Vermischung der Kulturen, zum Ort einer unbeschreiblichen Tragödie geworden. Nicht ein Tag vergeht, ohne dass Boote und Schiffe im Mittelmeer untergehen  - mit Menschen an Bord, die nur das Unrecht miteinander teilen, überleben zu wollen.  Das Mittelmeer ist ein Friedhof für die Jugend der Länder des südlichen Ufers geworden. Für viele unter ihnen, Frauen und Männer, ist die Gegenwart erbärmlich und die Zukunft beängstigend. Ressentiments und Frustration wenden sich gegen die jeweiligen Regierungen, die als unrechtmäßig und korrupt  betrachtet werden. Daher werden die Gegensätze zwischen dem Süden und dem Norden immer größer. Die Rechtsextremen florieren in Europa und die Fanatiker blühen im Süden auf, mit derselben Motivation: dem Hass."

 

Nach seiner Freilassung wird Boualem - dessen bin ich mir sicher  - unbeirrt an dieser Vision weiterarbeiten! 

 Jürgen Wertheimer

Voici le lien vers le texte en français:

https://www.revuepolitique.fr/boualem-sansal-une-tete-pleine-contre-des-tetes-brulees/

Foto: v.l. Alice Schwarzer, Boualem Sansal, Prof. Dr. Jürgen Wertheimer, Isabelle Holz (ehemalige Mitarbeiterin des Projekts), Florian Rogge

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